- Rabelais: Satire und humanistisches Ethos
- Rabelais: Satire und humanistisches EthosUm 1494 wurde François Rabelais als Sohn eines Advokaten in der Nähe Chinons in der Touraine geboren, einer Region Frankreichs, deren pralle Fülle und Fruchtbarkeit in sein Werk eingeflossen zu sein scheinen. Nach dem Eintritt in den Franziskaner- und später in den Benediktinerorden schrieb er sich 1530 zum Studium der Medizin an der Universität Montpellier ein und wirkte daraufhin als Arzt in Lyon, Metz und Narbonne. Diese Unruhe, die sich auch in zahlreichen Reisen ausdrückt, ist dabei nicht individuelles Charaktermerkmal Rabelais' und seiner vielseitigen Interessen, sondern auch Abbild des lebhaften Erkenntnisdranges seiner Zeit. Schon in jungen Jahren hatte Rabelais mit dem Studium griechischer und lateinischer Autoren begonnen und erste Kontakte zu bedeutenden Zeitgenossen aufgenommen. Unter ihnen findet man die Humanisten Guillaume Budaeus, Julius Caesar Scaliger und Erasmus von Rotterdam, der ihm, wie er schreibt, Vater und Mutter zugleich sei, dem er alles, was er wisse, verdanke, sowie die Dichter Clément Marot, Maurice Scève und Mellin de Saint-Gelais.Ab 1532 erschienen seine fünf Bücher über die gewaltigen Taten und »erschrecklichen Heldenstücke« des Riesen Gargantua und seines Sohnes Pantagruel. Der Autor knüpft dabei mit überbordendem Sprachwitz und genialischer Fantasie an Volksbuchtraditionen an, die von einem gutmütigen Riesengeschlecht erzählen, das der Zauberer Merlin für König Artus erschuf. Mit großer Wahrscheinlichkeit haben die 1532 in Lyon publizierten »Großen und unschätzbaren. Chroniken des gewaltigen und enormen Riesen Gargantua«, die jahrhundertealten mündlichen Überlieferungen schriftliche Form gaben, Rabelais dazu angeregt, dem Helden Gargantua einen Sohn, Pantagruel, dazuzuerfinden.Da das »Erste Buch«, das das Leben des Riesen Pantagruel furios beschreibt, ein großer Erfolg wurde, schickte Rabelais ihm 1534 das »Zweite Buch«, »Das höchst erstaunliche Leben des großen Gargantua«, nach, das vom Handlungsablauf her das erste ist. Beide Bücher nennen als Autor den Alchimisten Alcofribas Nasier, dessen Name nach kräftigem Buchstabenschütteln François Rabelais ergibt. 1546 erschien das »Dritte«, 1552 das »Vierte« und 1564, elf Jahre nach dem Tod des universalen Sprachschöpfers, das »Fünfte« Buch, das einer seiner Vertrauten vollendete.Nach dem Muster der mittelalterlichen Epik, das die Ritterromane seiner Zeit fortsetzen, beginnt Rabelais den »Gargantua« und den »Pantagruel« mit Geburt und Kindheitsgeschichte seiner Helden. Gargantua wird durch das linke Ohr seiner Mutter geboren, doch nach Rabelais ist eine solche Geburt nicht weiter verwunderlich, da sich Gestalten aus der Mythologie ebenfalls auf ungewöhnliche Weise Eintritt in die Welt verschaffen konnten.Bei Pantagruels Geburt stirbt seine Mutter Badebec. Vater Gargantua kommt in einen Argen Gewissenskonflikt, weil er nicht weiß, ob er den Tod seiner Frau beklagen oder sich über die Geburt seines Sohnes freuen soll; deswegen »plärrte er [zuerst] wie eine Kuh, doch mit einmal lachte er«. Im Sinne seines Schöpfers bekennt Gargantua sich damit in heiterer Gelassenheit zum Leben, das im Kreislauf der Natur ohne den Tod nicht denkbar ist, und zum Lachen, von dem Rabelais mit Aristoteles sagt, es sei allein dem Menschen eigentümlich.Die Riesen geben Rabelais die Möglichkeit, alles Natürliche und alles Geistige ins Monströse zu wenden, mit Zahlen Spiele der Übertreibung zu inszenieren, wie sie in der mittelalterlichen Literatur gang und gäbe waren. Alle körperlichen Eigenschaften der Helden sind gewaltig, ihre Nahrung ist ungeheuerlich: So stillen zum Beispiel »siebzehntausendneunhundertunddreizehn« Milchkühe Gargantuas Durst; mit seinem Blaseninhalt ertränkt er von den Türmen Notre-Dames »zweihundertundsechszigtausendvierhundertachtzehn« Pariser Bürger.Diesem zum Teil derben, mittelalterliche Traditionen grotesk übersteigernden Rabelais steht der gelehrte Humanist gegenüber, der sich - gewiss auch aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen mit geistlichen und weltlichen Autoritäten, mit Verfolgung und Zensur - für Toleranz, für eine Gesellschaft von freien Individuen einsetzt. Pantagruel, dessen mächtige Körperlichkeit der Autor manchmal wie selbstverständlich auf ein menschliches Maß zusammenschnurren lässt, beginnt zuerst ein Studium der sieben freien Künste und freut sich über die Schätze in der Pariser Sankt-Viktor-Bibliothek, die Rabelais - mittelalterliche Traktattitel genussvoll parodierend - in einer langen Liste aufzählt, wie etwa »Die Kunst, in Gesellschaft anständig zu furzen«. Während seines Aufenthaltes in Paris erreicht Pantagruel ein Brief seines Vaters, der eindringlich und leidenschaftlich, die Prinzipien einer zeitangemessenen Erziehung benennt und damit auch dem humanistischen Menschenbild klare Konturen verleiht. Pantagruel soll sich Kenntnisse etwa im Hebräischen, Griechischen, Lateinischen und Arabischen aneignen, er soll sich dazu intensiv mit Geschichte, Mathematik und Astronomie, mit Musik, Jurisprudenz und Medizin beschäftigen, um ein »Abgrund des Wissens« zu werden. Die so erworbene enzyklopädische Bildung ist dabei eingebettet in ein. Christentum, das alle äußerlichen Rituale des Glaubensvollzugs zugunsten einer Konzentration auf die Inhalte der Heiligen Schrift ablehnt. Diese Haltung verbindet Rabelais mit Erasmus und mit reformatorischen Bestrebungen im Allgemeinen. Sie fließt ein in die Beschreibung der Abtei Thélème, die Gargantua schließlich begründet. Sie ist ein utopischer Ort, der gegen die geistige Enge und Sittenlosigkeit konzipiert ist, die in den damaligen Klöstern herrschte, ein Ort, an dem jeder nach seinem »freien Willen und Gutdünken«, nur seinem inneren moralischen Gesetz verpflichtet, leben, handeln und entscheiden soll.Die zwölf Jahre, die zwischen dem Erscheinen des »Zweiten« und des »Dritten Buches« liegen, haben die ursprüngliche parodistisch-satirische Absicht des Autors nicht verändert. Seine Ziele bleiben weiterhin die Erlangung innerer Gelassenheit, die Fähigkeit zu besonnener Abwägung und weiser Lebensführung, zu dem, was er »Pantagruelismus« nennt. Zugleich wird Rabelais' Ton jedoch in sich gekehrter, vielleicht resignativer vor einer zunehmend gewalttätigeren Umgebung. Den Kern des »Dritten Buches« bilden die Überlegungen Panurges - Pantagruels schlitzohrigem Freund und Weggefährten -, ob er heiraten solle oder nicht, eine Möglichkeit für Rabelais, mit verschiedenen frauenfeindlichen Klischees zu spielen und seine große Belesenheit auszubreiten. Das Buch endet mit dem Entschluss Pantagruels und Panurges, das Orakel der »Göttlichen Flasche« aufzusuchen, um eine Antwort auf Panurges Frage zu finden. Im »Vierten« und »Fünften Buch« wird die abenteuerliche und fantastische Reise der beiden Freunde beschrieben, die sie schließlich auch zu der weissagenden Flasche führt, deren versöhnlicher Orakelspruch »Trink« auf die dem Wein zugeschriebene Fähigkeit anspielt, die Wahrheit zu finden, auf die Pflicht, sich in Freiheit zur Tugend im Zeichen Pantagruels zu entscheiden, jenes Pantagruels, der im Zeichen unstillbaren leiblichen und geistigen Durstes von seinem Schöpfer in die Welt gesetzt wurde.Rabelais' Werk wurde in den folgenden Jahrhunderten kontrovers diskutiert und in England, Deutschland und Frankreich vielfach adaptiert. Eine der schönsten Huldigungen hat ihm vielleicht Honoré de Balzac im 19. Jahrhundert mit seinen »Tolldreisten Geschichten« erwiesen, die er im Stil Rabelais' »zu Ergötzen, Kurzweil und Erbauung aller derer Pantagruelisten und mitnichten der Banausen und griesgrämigen Sauertöpfe« verfasste.Prof. Dr. Wolf-Dieter LangeFranzösische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürgen Grimm. Stuttgart u. a. 31994.
Universal-Lexikon. 2012.